Im Schatten des Kreml - Obligo mit Udo Lielischkies
Mit einem vierwöchigen Crash-Kurs Russisch fing alles an – das ist mehr als 20 Jahre her. Damals wurde Udo Lielischkies gefragt, ob er als ARD-Korrespondent nach Moskau gehen wolle. Er sagte ja, kehrte dem Brüsseler Büro der ARD den Rücken und packte seine Koffer. Sein damaliger Chef, Moskau-Studioleiter Thomas Roth, schickte ihn gleich nach seiner Ankunft weiter nach St. Petersburg zum nächsten Sprachkurs, denn als Korrespondent brauche es doch etwas mehr als nur Hallo und Tschüss auf Russisch sagen zu können. Kaum dort angekommen, überschlugen sich die Ereignisse und Udo Lielischkies war mittendrin in den Ereignissen, die dem ersten Tschetschenien-Krieg vorausgingen.
Auf spannende und einprägsame Weise verwob Udo Lielischkies am Abend des 02.11.2022 biographische Erlebnisse und Zeitgeschehen beim Marienauer Obligo miteinander. Von 1999 bis 2018 berichtete er als ARD-Korrespondent aus dem Studio Moskau. Unzählige Reisen führten ihn durch das weite Land, viele Erlebnisse hielt er in Filmen und Reportagen fest. Er ließ das Marienauer Publikum teilhaben an seinen Beobachtungen und dem profunden Wissen über russische Politik, Gesellschaft und Kultur. Um die aktuellen Ereignisse einordnen zu können, hilft es in die Geschichte zu blicken: Unter welchen Umständen kam der damals eher unscheinbare, aber bestens vernetzte FSB-Geheimdienstoffizier in das Präsidentenamt in Moskau? Welche Rolle spielte sein Vorgänger Boris Jelzin? Christoph Giesa von der Friedrich-Naumann-Stiftung, mit der wir bereits schon mehrere interessante Abendveranstaltungen in Marienau durchgeführt haben, leitete durch den Abend. „Normalerweise spreche ich zu älteren Zuhörer*innen, daher bremst mich oder fragt genauer nach, wenn ich zu sehr abschweife oder zu viel voraussetze“, bat Lielischkies das Publikum und Christoph Giesa. Dieser hatte aus dem umfangreichen Filmmaterial von Lielischkies einige Ausschnitte ausgewählt, um den Vortrag mit bewegten Bildern anzureichern.
In kurzweiligen 90 Minuten zeichnete Lielischkies die politischen und gesellschaftlichen Entwicklung Russlands nach. Das Ende der Sowjetunion, das für „den Westen“ als Befreiung empfunden wurde, ist aus russischer Sicht eine historische Phase des Bedeutungsverlustes; in einer Art „verkorkster Privatisierung“ formte sich in Russland eine Gruppe von Oligarchen, die vor allem den eigenen Wohlstand im Blick hatten, aber nicht ein Vorwärtskommen der Gesellschaft. Die Mafia hatte landesweit Einfluss, zwei Wirtschaftskrisen bremsten das Land in seiner Entwicklung. Dann kam Wladimir Putin, die Russen spürten, dass es für sie wirtschaftlich bergauf ging. Die prosperierende Wirtschaft stützte sich natürlich vor allem auf die immensen Rohstoffvorkommen, die Russland zu bieten hat. Das war die Erfolgsgeschichte von Putin, dem es jedoch nicht aus Großzügigkeit darum ging, dass es alle Russen gut ging. Sein Ziel, so Lielischkies, war es nie, eine starke zivilrechtliche Gesellschaft aufzubauen. Sein Interesse galt dem Ausbau der eigenen Macht, der Vermehrung von Einfluss und Geld. Er hat sukzessive alle Medien, die frei und unabhängig berichteten, eingeschränkt oder gleich zerschlagen, ähnliches gilt für die Rechtsprechung. In Russland kann kein Richter mehr unabhängig urteilen, die Urteile sind vorchoreografiert. Oppositionelle Bewegungen innerhalb und außerhalb des Parlaments haben keine Möglichkeit zu agieren. Als die Wirtschaftskrise 2008 die Erfolgsgeschichte Putins bedrohte, brauchte er ein neues Narrativ, eine Story, die ihm die Gefolgschaft seines Volkes sicherte. Es ist das Narrativ vom „Russland in der Defensive“, der bedrohlichen NATO-Osterweiterung, die Putin selbst einige Jahre zuvor bei der Unterzeichnung der Russland-NATO-Akte als nicht bedrohlich oder problematisch bezeichnet hatte. Der Rest ist aktuelles Zeitgeschehen, von den Tschetschenien-Kriegen über die Annexion der Krim bis zum Überfall auf die Ukraine: Udo Lielischkies versteht es, kompetent und unterhaltsam den Lauf der Geschichte zu vertiefen und durch persönliche Eindrücke und Anekdoten anzureichern. Zum Schluss gab es noch einen Filmtipp: Gemeinsam mit Palina Rojinski drehte Lielischkies einen Doku-Dreiteiler in Russland. Wer einen Blick auf seine in diesem Fall mal nicht ganz so politische Arbeit werfen möchte, kommt bei „Unser Russland“ auf seine Kosten. Und für die Bibliothek schenkte uns Lielischkies zwei handsignierte Ausgaben seines Buchs „Im Schatten des Kreml“ (2022). Wir bedanken uns für einen tollen Abend bei Udo Lielischkies und Christoph Giesa von der Friedrich Naumann-Stiftung!