Mitarbeitertagung der Internate Vereinigung DIV e.V. 2021
Die Internate Vereinigung ist ein Verbund von 17 Internatsschulen in Deutschland und der Schweiz.
Die Mitgliedsinternate arbeiten auf verschiedenen Ebenen in Arbeitskreisen zusammen und sorgen durch diese Zusammenarbeit für Qualitätssicherung und professionellen Austausch in Schule und Internat.
(Auszug) Nach zwei Jahren Planungsunsicherheit durch die Pandemie trafen sich ca. 150 Mitarbeiter*innen in Marburg. Auf dem Programm standen einerseits Netzwerk-Angebote und Treffen von Arbeitskreisen, die Interessierten offenstanden. Andererseits sollte die Tagung die Möglichkeit bieten, neuen fachlichen Input zu erhalten. Das Programm wartete mit drei hochkarätig besetzten Vorträgen aus den Bereichen Lernen, Lehren und Internatspädagogik auf. Die Tagung fand im Mitgliedsinternat Schule und Internat Steinmühle in Marburg statt. Gastgeber war neben der DIV Geschäftsführerin Eva Kemink auch Björn Gemmer, Leiter der Steinmühle und aktuell Vorsitzender der DIV.
Den Auftakt machte Prof. Dr. Jürgen Handke. Vortragsthema des vor Kurzem in den Ruhestand getretenen Professors für Anglistik, Sprachwissenschaften und Psycholinguistik war die „Asynchrone digitale Wissensvermittlung“. Kurzgesagt, es geht um veränderte Lernprozesse, wenn also Lehrende und Lernende nicht an einem Ort zusammenkommen, sondern die Wissensvermittlung zeitversetzt und in der Regel digitalisiert stattfindet. (…) Wer digitalisiert wen? Dabei steht das „Digital enhancement“, das Konstitutionsverhältnis von Mensch, Computer und Welt, im Fokus. Philosophisch betrachtet verändert sich heutzutage unser technisches Selbstverständnis: Der Mensch ist nicht mehr Mittelpunkt und Beherrscher der Technik, sondern deren Gegenstand.
Handke ist der Hauptvertreter des „Inverted Classroom bzw. Flipped Classroom Models“ in der Schulbildung. Dieses Model steht für umgekehrten Unterricht, es bezeichnet eine Unterrichtsmethode des integrierten Lernens, in der die Hausaufgaben und die Stoffvermittlung insofern vertauscht werden, als die Lerninhalte zu Hause von den Lernenden erarbeitet werden und die Anwendung im Unterricht geschieht. Dieses Model überträgt Handke nicht nur auf Schulen sondern auch auf Universitäten. Deshalb plädiert er für Sitzgruppen und lehnt klassische Klassenzimmer bzw. Hörsäle vehement ab.
(…) Worin sich Handke und auch der zweite Hauptredner Korte einig sind, ist die Bedeutung von Feedback im Lehr- und Lernprozess. Darin liegt der Schlüssel für den Aufbau einer Beziehung zwischen den Akteuren, und die Ausgestaltung der Beziehungsebene hat großen Einfluss auf Lernleistung und Lernerfolg.
Prof Dr. Martin Korte widmete sich dem Lehren und Lernen. Korte ist Biologe und lehrt an der TU Braunschweig. Seine Forschungsschwerpunkte sind zelluläre Grundlagen von Lernen und Gedächtnis. In seiner Eigenschaft als Neurobiologie nahm er sein Publikum an die Hand und erklärte anschaulich, zu welchen Gedächtnisleistungen wir im Stande sind und unter welchen Bedingungen unsere Leistungen abnehmen. So zeigt sich z.B. in Untersuchungen, dass Menschen besser und genauer erinnern, was sie auf Papier gelesen haben! Die Erklärung könnte in der dreidimensionalen Anordnung eines Textes in Büchern liegen. Und es lässt sich immer wieder nachweisen, dass die Lernleistung und die Fähigkeit, das Gelernte auch abrufen zu können, umso besser ist, je aktiver Menschen beim Lernen sind und je mehr Anstrengung es sie kostet. Doch gerade diese aktive Beteiligung am Lernen fiel in den letzten Monaten während der Pandemie und den Phasen des Lockdowns weg. (…)
Es zeigt sich, dass die Schule als sozialer Lernort mit direktem Kontakt zu Mentoren und Peers von entscheidender Bedeutung für den Lernerfolg ist. Es muss also mindestens ein Blended-Learning-Modell geben, bei dem die Lehrkräfte genauso involviert sind wie beim Unterricht im Klassenraum. Korte plädiert also dafür, die Möglichkeiten des digitalen Lernens so einzurahmen, dass daraus Lernerfolg entstehen kann. Der Neurobiologe hebt die Bedeutung der neuronalen Belohnungsysteme hervor. Damit der Motivations-Cocktail aus „Belohnungshormonen“ ausgeschüttet wird, braucht es Interesse, soziale Anerkennung, persönliche Wertschätzung, gute Vorbilder und die Chance auf Erfolg. (…)
Der dritte Vortrag im Rahmen der Tagung fokussierte das Internat und die Bedeutsamkeit dieser Institution für die Bildung und Entwicklung der Kinder und Jugendlichen. Prof. Dr. Klaus Zierer ist Erziehungswissenschaftler und seit 2015 Ordinarius für Schulpädagogik an der Universität Augsburg. Er fasste Beobachtungen und Studien aus seiner Veröffentlichung „Ein Jahr zum Vergessen“ (2021) zusammen und leitet daraus Forderungen an Gesellschaft und Schule ab, um nach dem Pandemie-Peak eine Bildungskatastrophe zu verhindern. Die körperliche Verfassung der Lernenden wurde von der Pandemie ebenso beeinflusst wie sie psychosoziale Entwicklung und die kognitiven Lernleistungen. Zierer schließt somit nahtlos an Prof. Dr. Korte an und hält ein Plädoyer dafür, Verbindlichkeit durch klare Strukturen zu schaffen.
Er sieht die Notwendigkeit, Menschen zu stärken in ihrer Rolle als Lernende, Lehrende und Eltern sowie Unterricht zu professionalisieren, indem Erkenntnisse aus Forschungen, wie sie z.B. die beiden Vorredner betreiben, wirklich Anwendung finden. Seine eigene Arbeit ist eine Metaanalyse vieler Studien und untersucht den Einfluss unterschiedlicher Faktoren auf das Lernen. Dabei wird deutlich, dass Aspekte wie Elternerwartungen, der sozioökonomische Status von Lernenden und ihren Familien sowie die Elternunterstützung messbaren und erheblichen Einfluss auf unser Lernen haben. Andere Faktoren wie Laptop-Einzelnutzung, Computerspiele und umfassende außerschulische Smartphone-Nutzung beeinflussen unser Lernverhalten ebenfalls, allerdings nachweislich in negativer Weise. Beim Vergleich unterschiedlicher digitaler Lernformate schnitten Webinare, Fernunterricht, Online-Lernen usw. allesamt schlecht ab, d.h. ihnen wurde eine geringe Wirksamkeit für den Lernerfolg nachgewiesen. Zu den guten Einflussgrößen zählen das Selbstkonzept einer Person, Konzentration, Ausdauer und Engagement so wie eine hohe Motivation, und diese Aspekte gilt es in Schule und Internat in den Vordergrund zu rücken. Klares Statement von Zierer ist daher „Pädagogik vor Technik“: Erfolgreiches Lernen erfordere Kooperation und Austausch, Umwege und Irrwege, Einsatz und Anstrengung. (…)
Alle Referenten kamen am zweiten Tag in einer Diskussionsrunde zusammen. Heike Elz moderierte und begrüßte als weiteren Gast Dr. Evelyn Korn, seit 2016 Vizepräsidentin für Studium und Lehre an der Universität Marburg. Sie ist auch zuständig für das Zentrum für Lehrerbildung und wissenschaftliche Weiterbildung. Als Impuls kamen hier Schüler und Schülerinnen aus Marienau in einem Video zu Wort. Fragen aus Schüler*innen-Sicht sollten den theoretischen Input der letzten Tage auf den zukünftigen Schulalltag herunterbrechen. Und es wurde auch deutlich, dass die von allen prinzipiell befürworteten Veränderungen in Schule und Ausbildung in der Praxis einige Hürden vor sich haben: Der Bildungsföderalismus, festgefahrene Strukturen im Bildungssektor und finanzielle Grenzen erschweren die Weiterentwicklung in diesem Bereich. Und hier bietet sich für die Internate eine Möglichkeit die etwas größeren Freiräume konstruktiv zu nutzen und eventuell mit gutem Beispiel voran zu gehen.
Den vollständigen Bericht lesen Sie in der nächsten Marienauer Chronik.