"Das Leben ist eine feine Sache" - Zeitzeugengespräch mit Abba Naor
Marienau. „Das Leben ist eine feine Sache“, sagt Abba Naor. Er wiederholt es oft und gerne, wie es scheint, obwohl er sich bis heute die Frage stellt, wer es denn eigentlich besser hat:
Diejenigen, die im Konzentrationslager ums Leben gekommen sind, oder diejenigen, die am Ende befreit wurden. Denn jede Nacht, so erzählt der 93-Jährige, sei er wieder dort, dort, wo „die Hunde besser dran waren als wir“, dort, „wo wir jeden Tag zum Tode verurteilt waren“. Er hat überlebt.
Die Erinnerung wachhalten und auch dadurch gegen Hass zu kämpfen, sich gleichzeitig für Frieden und Völkerverständigung einzusetzen – das ist Abba Naors Mission. Und dafür trifft er besonders gerne auch die Jugend. „Wir müssen auf die Kinder bauen“, sagt er, die Zukunft sei besser als die Vergangenheit – über die Gegenwart verliert er aber kaum ein Wort. Und Fragen zum Krieg in der Ukraine, zu all dem, was das in ihm auslöst, sind nicht möglich. Die Zeit ist zu knapp.
Eineinhalb Stunden sind eingeplant, eineinhalb Stunden, in denen der in Litauen geborene Jude den Oberstufenschülerinnen und -schülern des Gymnasiums Marienau seine Geschichte erzählt. Online – denn der Weg in den Landkreis Lüneburg ist dann doch zu weit. Stattdessen sitzt der 93-Jährige in der Gedenkstätte des Konzentrationslagers Dachau. Das kennt er. Und er kennt auch Max Lütgens, der dort als pädagogischer Mitarbeiter tätig ist und früher ein Schüler des niedersächsischen Internats war. So schließt sich der Kreis.
Abba Naor hat seine Geschichte schon oft erzählt, das ist ihm anzumerken, denn die Erinnerung fließt nur so aus ihm heraus. Verbittert ist er nicht, aber die Fragen, die er sich noch immer stellt, bleiben auch weiterhin ohne Antwort: „Wir haben immer versucht, uns anzupassen, haben die Sprache und die Sitten der Länder übernommen, in denen wir lebten, hatten lediglich eine andere Religion. Bis heute kann ich nicht verstehen, was wir falsch gemacht haben.“
Gut integriert seien er, seine zwei Brüder und die Eltern im heimischen Litauen gewesen. Bis die Sowjets kamen und später dann die Nazis. Als am 22. Juli 1941 Kaunus bombardiert wurde, floh die Familie Richtung Vilnius, kehrte nach ein paar Wochen wieder zurück. „In dem Moment, in dem mich die Nachbarin sah, fing sie an zu schreien.“ Da wurde dem damals 13-Jährigen klar: Sie waren keine Landsleute mehr, sie waren die Juden.
Und die wurden schnell organisiert: 30.000 mussten fortan in den beiden Ghettos von Kaunus leben, Abba Naors älterer Bruder wurde dort erschossen. Später wird die Familie in das Konzentrationslager Stutthof bei Danzig deportiert. „In Stutthof haben wir angefangen zu spüren, dass wir keine Familie mehr sind." Die Männer werden von den Frauen getrennt. Am 26. Juli 1944 wird seine Mutter mit dem jüngeren Bruder nach Auschwitz abtransportiert. Er sah sie nie wieder.
Freiwillig meldete er sich später für Kaufering I, dem berüchtigten Außenlager des Konzentrationslagers Dachau. Zwölf Stunden Schwerstarbeit mit Hunger, Läusen, Schlägen: „Überleben war hier reiner Zufall“, sagt er. Von dort aus geht es schließlich auf den Todesmarsch in den Süden, bei dem erschossen wurde, wer nicht mehr laufen konnte. Am 2. Mai 1945 wird er mit 17 Jahren in Waakirchen bei Bad Tölz von Einheiten der US-Armee befreit.
Es ist eine ergreifende Geschichte, die Abba Naor zu erzählen hat, und die er doch ganz sachlich präsentiert. Er ist einer der letzten Zeitzeugen – und auch das wird an diesem Vormittag wohl vielen bewusst. Ihn zu erleben, ist besonders. Und ihm zuzuhören, ist tief bewegend. Dann holt der Ruf der Deutschlehrerin nach ihrem Unterrichtsraum alle ganz schnell wieder in die Gegenwart zurück. Das Leben ist doch eine feine Sache.
Text: Ute Lühr (Landeszeitung); Foto: Wolfgang Hauck
Anmerkung: Wir haben Ute Lühr eingeladen, am Online-Zeitzeugengespräch am 02.03.2022 teilzunehmen.